Webseite - Thema an der Uni



Nachbarschaft 2016

 

Haidenkofener Webseite Thema einer Vorlesung an der Goethe Universität in Frankfurt a. M.

 

Professor Dr. Heinz Schilling, Kulturwissenschaftler an der Uni Frankfurt, wurde auf Haidenkofen durch einen Artikel im Spiegel an Ostern 2012 aufmerksam. Das darin enthaltene Bild mit sechs Personen vor dem sog. Vereinshaisl weckte sein Interesse. Er stellte sich die Frage, ob es sich da um eine der üblichen Illustrationen für alles handelte, was das Magazin in seiner metropolitanen Arroganz für möglichst provinztypisch oder gar provinziell hielt. Fortan fing er an, die Webseite des Dorfes kontinuierlich zu beobachten. Ihn interessierte die Frage: „Was war das für ein Dorf, und was ist das für ein Bild von Heimat, das hier aufgezeigt wird?“

 

Er begann mit seiner Feldforschung, deren Objekt nicht primär das Dorf selbst war, sondern das Bild, das man dort von sich selbst entwarf und in die Welt hinausschickte.

 

Ein kleines Dorf in Bayern, ein recht ansprechend gemachter Internetauftritt über die Bewohner, die unentwegt etwas feierten, Brauchtum pflegten, reparierten oder organisierten, und sein Eindruck war: „immer alle dabei“. Dies erinnerte ihn an die Forschungen von Anthony P. Cohen über den kulturellen Wandlungsprozess der Shetlandinsel Whalsay, einer einst kleinen Welt beim Angeschlossenwerden an die große, die globalisierte Welt.*) Was auf der Insel dennoch versucht wird zu bewahren ist die Vorstellung von Gemeinschaft. Dabei spielen Zugehörigkeit, tatsächliches physisches Zusammensein und Grundüberzeugungen bezüglich gemeinsamer, geteilter Werte eine Rolle. Das von Politik und „großen“ Medien heute inflationär inszenierte Wir sei ein „unterstelltes Wir“, sagt der französische Ethnologe Marc Augé. Er sieht die gesamte Gesellschaft als eine „illusorische Gemeinschaft“.*)

 

Neugierig geworden bat Schilling die Betreiberin der Seite, Eva Gerl, um ein E-Mail-Interview. Ihre Antworten flossen in seine an der Uni Frankfurt 2016 gehaltene Vorlesung ein.

Bei dieser Vorlesung ging es im Kern um die Definition was Nachbarschaft sein kann, was als Nachbarschaft gilt. Über verschiedene Unterthemen näherte man sich dem Thema Nachbarschaft und zwar u. a. über „digitale Nachbarschaften“, „Nähe auf Distanz“, „Nachbarschaftskonflikte“ und „Aufhebung von räumlicher Distanz durch technische Mittel“.

 

Ausgangspunkt der Forschung waren zwei Internetseiten. Einmal www.main-riedberg.de. Riedberg, ein funkelnagelneuer Stadtteil von Frankfurt, geschichtslos. 15.000 – wie vom Himmel gefallene – Einwohner, nun auf der Suche nach sich selbst. Zum anderen: Haidenkofen, das alte gewachsene Dorf mit seiner modernen Seite www.haidenkofen.de. Dabei ging es um die grundsätzliche Frage, in welchem Sinn das Internet ein lokales Nachbarschaftsmedium sein kann. Es sollte vor allem das hypothetische Zusammenspiel von Nähe und Distanz durchleuchtet werden. Die Betrachtung dieser zwei ausgewählten lokalen Webseiten bezog sich dabei nicht auf die Orte selbst, sondern auf deren mediale Präsentation und wie diese Orte dargestellt wurden.

 

Beim Beobachten der Homepage von Haidenkofen wurde Professor Schilling den Eindruck nicht los, dass es sich dabei um eine Art „Chronik“ eines intakten Miteinanderlebens der Menschen handelt – ohne die negativen Seiten, die es im Zusammenleben bestimmt auch geben muss. Die digitale, stetig fortschreitende Aufzeichnung des laufenden Geschehens im Dorf zur Sicherung des örtlichen „Wir“ stellt nach außen eine überschaubare, heile Welt dar –heil im Sinne von ganz, unversehrt, in Ordnung. Nachrichten über schöne und erfreuliche Ereignisse richten sich v. a. an zwei Gruppen: die ehemaligen und die aktuellen Dorfbewohner. Im Internet wird diese authentisch anmutende dörfliche Lebenswelt gezeigt.

 

Lt. Schilling spricht einiges dafür, dass insbesondere diese Identifikation eine Basis für das Haidenkofener Wir ist. Aber: Braucht Haidenkofen wirklich eine Webseite für die „lokale Identität“? In der Diskussion nach Ende der Vorlesung hielten sich die Ja- und Nein-Meinungen die Waage.

*) Literaturhinweise: A. P. Cohen: The Symbolic Construction of Community. London 2001;  Marc Augé: La communauté illusoire, Paris 2010; dt. Die illusorische Gemeinschaft, Berlin 2015

 

Mein Dank gilt Herrn Professor Dr. Schilling für die Genehmigung der auszugsweisen Wiedergabe seiner Vorlesung auf dieser Internetseite. 

 

Spiegel

 

Foto im Spiegel an Ostern 2012

 

Beitrag vom 02.09.2017




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